Achtsames Selbstmitgefühl
Frage: Fangen wir doch gleich etwas provokativ an: Du schreibst auf deiner Website:
"In dem Kurs Achtsames Selbstmitgefühl (Mindful Self-Compassion = MSC) lernen Sie, eine mutige, geistige Haltung zu entwickeln, um sich selbst mit Freundlichkeit und Akzeptanz zur Seite zu stehen - auch in schwierigen Momenten den Lebens."
Warum in aller Welt soll ich mich unbedingt selbst akzeptieren? Mir passt die ganze Selbstoptimiererei gar nicht, und ich denke mir, kann ich denn nicht einfach mal richtig unzufrieden mit mir sein und auch mal mit der Welt hadern?
Evelyn Rodtmann: Einfache Antwort: Ja, klar darfst Du hadern! Gegenfrage: Fühlst du dich wohl damit, wenn du haderst? .... Ich verstehe schon .... Unzufriedenheit und Hadern wird oft als nicht gewollt erlebt, gehört aber zu den Gefühlen und Gedanken, die wir nun mal haben.
Doch was ist „Hadern“ eigentlich?? Hadern bedeutet ja, im Widerstand zu sein mit den Umständen, die da SIND. Es sind oft Gefühle von Unzulänglichkeit, Versagen und Schuld, die uns in einen Kreislauf von Grübelei führen und so auch zur Depression werden können. Im Widerstand mit der Situation zu sein, wie beim Hadern, verändert erstens nichts an der Situation selbst und zweitens leide ich auch noch daran. Was es braucht, ist eine andere innere Haltung, die von Akzeptanz und Mitgefühl geprägt ist.
Hier kommt jetzt die Achtsamkeit ins Spiel?
Achtsamkeit ist ein wichtiges Werkzeug für die Entwicklung von Selbstmitgefühl. Der erste Schritt besteht in der Wahrnehmung dessen, was ist. Im zweiten Schritt akzeptiere ich, dass die Situation ist, wie sie ist. Das heißt nicht, dass ich sie gut finden muss (!) – aber in diesem Moment bin ich in Frieden damit – so ist es! Wenn ich hadere, bin ich im Widerstand. Wenn ich dramatisiere ("wie schrecklich!"), binde ich mich noch mehr daran, oder aber ich lasse mich von meinen Gefühlen überwältigen. Achtsamkeit gibt mir wieder mehr Kontrolle, denn ich akzeptiere.
Um was geht es genau beim Selbstmitgefühl?
Ausgangssituation z.B.: Ich leide, weil ich etwas nicht geschafft habe, versagt habe. Zur achtsamen Akzeptanz kommt nun noch Freundlichkeit mir selbst gegenüber dazu – weil ich leide. Wichtig ist: Ich bin nicht freundlich zu mir, um das Leiden "wegzukriegen"! Ich bin freundlich zu mir, weil es mir nicht gut geht. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist, wie ein Kind zu trösten, das sich wehgetan hat. Ich kann den Schmerz nicht weg machen, aber ich kann Trost und Beruhigung schenken, das Kind fühlt sich gehalten und gestärkt im Schmerz.
Was sagt denn die Forschung zu den Wirkungen von Selbstmitgefühl?
Am Beispiel Selbstkritik wird es gut deutlich: Selbstkritik aktiviert unser inneres Bedrohungs- und Verteidigungssystem, da wir dabei unser Selbstbild angreifen. Stresshormone werden dann ausgeschüttet.
Die Forschung von Dr. Kristin Neff (eine Mitbegründerin des MSC-Kurses) zeigt deutlich, dass die freundliche Zuwendung, die wir uns geben, wenn wir Selbstmitgefühl praktizieren, uns weit mehr motiviert als harte Selbstkritik. Wir halten dann besser Entschlüsse durch, im Sport, in der Ernährung etc. Wir aktivieren stattdessen unser Fürsorgesystem: Durch Wärme, eine beruhigende Berührung (vielleicht legen wir uns eine Hand aufs Herz oder umfassen uns selbst an den Armen) und durch eine freundliche Haltung uns selbst gegenüber wird Oxytocin ausgeschüttet – ein Hormon, das beruhigt, ein Wohlgefühl auslöst, bindungsfördernd und stressregulierend wirkt. Hier geht es um die Bindung zu sich selbst, die verbessert wird. Ich fühle mich gut in meinem Körper, gut in mir. Ich sorge besser für mich, nehme mir genug Freizeit, bewege mich mehr.
Wird also Disziplin durch Selbstfürsorge ersetzt?
Es ist stimmiger zu sagen, dass Selbstfürsorge uns dazu bringt, disziplinierter für unser Wohlergehen zu sorgen. Ich nehme mich selbst liebevoll an die Hand, genauso wie ich es auch bei einem Kind mache, weil ich weiß, dass es besser für mich ist, „diszipliniert“ regelmäßig Zähne zu putzen, auch wenn ich keine Lust dazu habe.
Das widerspricht ja allen erlernten Konzepten von Strenge, durchzuhalten, sich noch mehr anzustrengen.
Nicht wirklich! Ich ändere nur die innere Haltung, mit der ich auch mal eine schwierige Situation durchhalte, denn Schwierigkeiten treten ja immer wieder auf. Schimpfe ich dann zusätzlich mit mir oder spreche mit einer harten, fordernden Stimme zu mir? Verzeihe ich mir, mit etwas nicht klar zu kommen, Fehler zu machen? Die Forschung zeigt, dass Selbstmitgefühl uns schneller wieder ermutigt, nach einem Misserfolg uns selbst zu verzeihen und neue Ziele zu verfolgen.
Durch Selbstmitgefühl bauen wir vielmehr emotionale Ressourcen auf. Wenn ich mit mir selbst fürsorglich umgehe, baue ich Kraft in mir auf. Dadurch kann ich besser mit schwierigen Situationen umgehen, denn … ich bin schon mal auf meiner Seite!
Wozu ist der achtwöchige Kurs in Selbstmitgefühl gut, den du anbietest?
Selbstkritik, Selbstverurteilung oder der innere Druck „perfekt“ sein zu müssen, sind sehr verbreitet in unserer Kultur. Du sprachst anfangs die Selbstoptimierung an, die uns nie ankommen lässt in dem Gefühl: „Ich mag mich so, wie ich bin!“ Und doch ist Mitgefühl eine Fähigkeit, die wir alle besitzen, aber viel öfter bei geliebten Mitmenschen (oder Haustieren) aktivieren als bei uns selbst.
Der MSC-Kurs ermöglicht den TeilnehmerInnen, direkte Erfahrungen mit Selbstmitgefühl zu machen: Durch Selbsterfahrungsübungen, Meditationen, Vorträge und Austausch in der Gruppe sowie – ganz wichtig – durch Übungen zu Hause lernen die Teilnehmer, ihre Fähigkeit zu Selbstmitgefühl zu stärken und ganz konkret im Alltag zu anzuwenden.
Auch erlebe ich im Kurs, dass ich nicht allein bin! Ich sehe, dass Probleme und Fehler einfach etwas allgemein Menschliches sind. Das ist sehr stärkend! Ich erlebe, dass Selbstmitgefühl öffnet und verbindet, Selbstmitleid dagegen durch das Gefühl "Ich bin die Einzige, der es so geht!“, „Immer passiert das mir!" zur Isolierung neigt. Da bleibe ich in negativen Gefühlen geradezu hängen.
Muss der Leidensdruck hoch genug sein, bevor Menschen in deine Kurse kommen – ob Stressbewältigung durch Achtsamkeit (MBSR Mindfulness Based Stress Reduction) oder Achtsames Selbstmitgefühl (MSC Mindful Self Compassion)?
Leidensdruck ist meistens vorhanden – nur unterschiedlich stark. Manche Menschen verfügen über ein gutes Frühwarnsystem; sie sehen, es wird schwieriger und suchen sich früh Unterstützung. Manche wiederum haben schon sehr früh schwerwiegende Symptome entwickelt wie z.B. Panikattacken, an denen sie nicht vorbeisehen können.
Kann man sich mit dem Konzept des Selbstmitgefühls nicht auch etwas vormachen, tiefer liegende Konflikte verschleiern?
Ein klares Nein! Achtsamkeit verhindert ja genau das Verschleiern. Selbstmitgefühl hilft mir, mit schwierigen Situationen umzugehen, und zwar gleichgültig, was zum Vorschein kommt. Selbstmitgefühl macht mich mutiger hinzusehen, hinzufühlen!! Ich stehe mir ja immer selbst bei!
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