"Mehr als alles danach." Wie unsere kindlichen Erfahrungen während Schwangerschaft und Geburt unser Leben prägen.

Für die meisten von uns liegen die frühesten Erinnerungen an unsere Kindheit ab dem 3. Lebensjahr oder sogar weit später. Das hat damit zu tun, dass wir Menschenkinder mit der Geburt noch nicht fertig sind, wir sind gewissermaßen alle Frühgeburten, verglichen mit der Überlebensfähigkeit anderer Säugetiere nach der Geburt. Gerade auch unsere Gehirnentwicklung ist noch nicht abgeschlossen, die Großhirnrinde, die Erinnerungen bewusst speichert, bildet sich erst nach der Geburt vollständig aus. Auch die Ausreifung des vegetativen Nervensystems ist erst mit Ende des 1. Lebensjahres abgeschlossen. Dieses steuert unsere vitalen Funktionen und Reflexe und ist auch für die Balance von An- und Entspannung zuständig ist. Wirklich abgeschlossen ist unsere Gehirnentwicklung erst nach der Pubertät, mit ca. 20 Jahren.
Wie kann es da sein, dass unser Erleben des Zeitraums zwischen Empfängnis über die Schwangerschaft und die Geburt bis hinein in die ganz frühe Babyzeit mehr als alles danach unser Leben prägt?
„Immer auf 180 und Distanz unmöglich.“
Es liegt einerseits an unserem noch unfertigen vegetativen Nervensystem, das Stress und Trauma noch nicht selbst ausgleichen oder verarbeiten kann. Wir sind also in unserer sehr frühen Zeit eigentlich noch überhaupt nicht dafür gemacht, Stress und Trauma zu erleben. Leider passiert genau das doch, und gar nicht so selten. Trauma kann zum Beispiel durch nicht gewollt sein, Verlust eines Zwillings (relativ häufig, oft in der Frühschwangerschaft), Pränataldiagnostik, Alkohol- oder Zigarettenkonsum oder Medikamenteneinnahmen der Mutter während der Schwangerschaft, durch vorzeitige Wehentätigkeit, aber auch durch eingeleitete Geburten, Sauerstoffmangel unter der Geburt, Eingriffe wie Geburtszange oder Saugglocke zur Geburt, durch Kaiserschnitt, frühe Trennung von der Mutter, Stillprobleme, gestörte Bindung, und vieles mehr passieren. Wir - die Kleinen in uns, die solches erlebt haben - haben oft nicht nur Heftigstes erlebt, sondern waren in unserem Erleben allein, wenn wir nicht das Glück hatten, dass unsere Mütter mit uns in Kontakt bleiben und sich und damit uns regulieren, wieder zur Ruhe bringen konnten. Denn wir selbst konnten das noch nicht, unser Nervensystem war zu diesem Stressabbau noch nicht in der Lage, die stressbedingte Hochspannung musste darum in uns bleiben.
Und die immense Bedeutung dieser frühen Lebenszeit liegt auch daran, dass wir in dieser Zeit noch kein Ich-Erleben haben. Das heißt es gibt kein Ich, das etwas erlebt, sondern "Leben ist so": überwältigend, bedrohlich, ablehnend, nicht versorgend, meine Bedürfnisse ignorierend, was auch immer die jeweiligen Erfahrungen gewesen sind.
Diese frühen Erlebnisse werden so zu unseren Ur-Erfahrungen vom Leben selbst, prägen sich in unser Sein so ein, dass wir uns gar nicht mehr getrennt von diesen Erfahrungen erleben können. Sie werden zu uns, und unsere Reaktionen darauf werden zu Autopiloten, die ab dann unser Leben bestimmen und ausmachen. Und die wir nicht einmal mehr bemerken.
Was haben Extremsportler und Aufschieberitis gemeinsam?
Eindrückliche Beispiele sind Menschen, die Nahtoderfahrungen unter der Geburt gemacht haben und zu Extremsportlern oder gnadenlosen Workaholics werden, immer angetrieben von Extremsituationen, in denen sie immer neu ihr Überleben unter Beweis stellen müssen, meinen sie. Oder Menschen, die wenn es daran geht, Entscheidungen umzusetzen, in Starre verfallen, ineffektiv werden, alles aufschieben - da gibt es zugrundeliegend oft eine Geburtsgeschichte von Einleitung, zuvor vielleicht sogar Wehenhemmung, manipulierter Geburt.
Aber unser Körper erinnert sich
Nachdem all diese Erinnerungen nicht in der Großhirnrinde gespeichert sind, sondern in all unseren Körperzellen, im sogenannten intrinsischen Gedächtnis, können wir nur mit rückführender Körper- und Atemarbeit an die Wurzeln von diesen unseren Autopiloten und Kern-Konzepten über uns und das Leben kommen.
Die Arbeit in der Gruppe ist für viele die effektivste Möglichkeit, an die eigenen unbewussten Erfahrungen heranzukommen, weil die Gruppe wie auch das Verkörpern des Prinzips Gebärmutter in der Arbeit mit frühem Trauma aus dieser Zeit als heilendes Feld dient.
Sich selbst neu gebären
In der „Frühe Prägung“-Arbeit versuchen wir zunächst, ein gutes Gespür für diese Momente zu bekommen, wenn unbewusste frühkindliche Empfindungen und Zustände hochkommen. Wir bauen Ressourcen auf, lernen, wie wir selbst für uns und miteinander in der Gruppe mit diesem Frühen achtsam und liebevoll umgehen können. Auf einer weiteren Ebene laden wir dann das Gewesene ein, fühlbar zu werden, eben unsere innere Landschaft aus der Zeit von Schwangerschaft, Geburt und früher Babyzeit. Das kann über geführte Meditationen zusammen mit gezielten Atemtechniken begleitet von Musik in speziellen Frequenzen stattfinden, und auch über das Gebärmutterfeld, welches im Raum ausgelegt wird. Sobald wir dieses räumliche Feld in der Form einer roten Gebärmutter betreten, übernimmt immer mehr das Körpergedächtnis, und das Gewesene wird wieder erfahrbar, diesmal in liebevoller und achtsamer Begleitung und getragen vom Feld der Gruppe, das ebenfalls wie ein gut gehaltener Gebär-Raum wirkt.
Neue, heilende Erfahrungen werden dadurch möglich, und durch das nun verkörperte Fühlen und so Bewusstmachen des Gewesenen in liebevoller und achtsamer Begleitung wird es möglich, dass wir ab dann aus dem hier und jetzt, unserem erwachsenen Sein, entscheiden und handeln können, und nicht länger blind dem Wiederholen unserer frühen Erfahrungen ausgeliefert sind. Wirkliche Heilung kann geschehen.
Nächste Termine:
- Sa, 11.1.2025: Vortrag und Praxis-Demonstrationen beim Tag der Offenen Tür im Aquariana
- 12.1., 12.4., 14.9.25: Tagesworkshops „Frühe Prägung, Arbeit zu Individuellen Themen“
- Intensivwochenenden 22./23.2. sowie 17./18.5. und 28.-30.11.2025: „Frühe Prägung – lebenslang?“
Details und Termine: www.wege-zum-heilsein.de

Dr. med. Anja Engelsing
Ganzheitliche Frauenheilkunde
Seminare: Geburts- und Schwangerschaftstrauma heilen
Frauenärztin